Grammophon und Käsebier

Jo van Nelsens Grammophon
Jo van Nelsens Grammophon. Foto: Münch

Was für eine großartige Idee: Die Texte und die Musik der späten 20er-Jahre zusammenzubringen, das Berlin und die Welt, den Wahnsinn und die Wirren dieser Zeit zurückzuholen: Jo van Nelsen tut das mit seinen Grammophon-Lesungen; am Dienstagabend tat er es im Aschaffenburger Kirchnerhaus am Hauptbahnhof.

„Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ heißt das Buch, aus dem der Schauspieler und Musiker las:  Gabriele Tergit lässt darin den Aufstieg des Berliner Volkssängers Georg Käsebier lebendig werden, 1931 wurde der Roman über Nacht zum Hit. 2016 wiederentdeckt und neu aufgelegt vom Frankfurter Schöffling Verlag, malt er heute noch Bilder in die Köpfe seiner Leser: Bilder von flotten Mädchen und langen Nächten, von lauten Varietes und überfüllten Kneipen, von der Berliner Journaille und, am Rande, vom Elend der Berliner Massen, die in der Weimarer Republik unter die Räder einer  dekadenten  Gesellschaft kamen.

Milieu und Neue Sachlichkeit

Lebendig wird dieser Text, der von schnellen Eindrücken, vom Milieu und vom Stil der Neuen Sachlichkeit lebt, aber vor allem im Ohr –  wenn er vorgelesen wird von Jo van Nelsen. Der geht ganz in dieser Erzählung und ihrer Zeit auf, gibt vor allem den einzelnen Charakteren ihre Stimme. Sein Käsebier etwa ist schon nach wenigen Worten gezeichnet: als einfacher Berliner Kerl, vom Erfolg überrollt, als Spielball der Profiteure.

Und dann sind da freilich noch die Schellackplatten, die van Nelsen dabei hat, und sein Electrola-Koffergrammophon. Zwischen den gelesenen Passagen legt van Nelsen immer wieder die Musik der Zeit auf, sagt ein paar Worte zu den Stücken, die das Publikum hört. Claire Walldorf singt dann von Hannelore, dem „schönsten Kind vom Helleschen Tore“;  Max Kuttner schwärmt von „Mein Berlin“: die Stimmen klingen ganz weit weg, das Orchester eiert ein wenig, die Nadel kratzt auf den Rillen. Nach jedem Stück wechselt van Nelsen diese Nadel, um die alten Originale nicht über Gebühr zu strapazieren.

Zu all dem ist auch der Ort für diese Lesung in Aschaffenburg wahrlich perfekt gewählt: Die Bilder und Skizzen von Ernst Ludwig Kirchner – im Kirchnerhaus werden derzeit Plakate verschiedenster Kirchner-Schauen ausgestellt  –  zeigen genau diese Welt, die Gabriele Tergit beschreibt, die Käsebier und Kuttner besingen.  Umso beklemmender dann das Ende des Romans, seine dunkle Ahnung am Beginn der 30er-Jahre. Im Kirchnerhaus hat sich das alles so echt angefühlt, so in sich stimmig und so rund – dass man fast darüber hinweg sehen wollte, wie ähnlich die Wirren und der Wahn der Weimarer Republik  unserer eigenen Zeit doch sind.

  • Obwohl der Abend mit van Nelsen einmalig war – er ist es zum Glück nicht wirklich. Am 11. Mai 2017 liest er seinen Käsebier zum Beispiel in der Frankfurter Romanfabrik; der Hessische Rundfunk wird diesen Abend aufzeichnen (und hoffentlich in absehbarer Zeit eine CD daraus machen).
  • Jo van Nelsen hat mehrere Grammophon-Lesungen im Programm, die allesamt in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt sind.
  • Mehr über den Roman „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ hat zum Beispiel Sönke Schneider aufgeschrieben.

4 Gedanken zu “Grammophon und Käsebier

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